Kata - Bunkai

Autor: Thomas Stenzel


Der Begriff Bunkai (jap. 分解) beschreibt eine grundlegende Trainingsform im „traditionellen“ Karate Dō. Es bedeutet soviel wie Analyse oder „auseinander nehmen“, zerlegen“. Darüber hinaus ist Bunkai sehr eng mit der Tradition des Karate verbunden und kann als Kernstück dieser alten „Kunst der Selbstverteidigung“ angesehen werden. Historisch fand sich hierfür jedoch nur der Begriff Kumite "das Zusammenbringen der Hände". Das heißt die Übungsform in der die Anwendung der Gesten mit dem Partner geübt wurde. Kata Bunkai (Kata – Gumite) versucht dem Karateka die tiefgreifenden Aspekte und Prinzipien der Kata zu vermitteln, schult Körper und Geist und versucht den Übenden auf die möglichen ernsten Situationen der Selbstverteidigung vorzubereiten! 


Historisch gesehen wurden die Kata und evtl. die dazugehörigen Unterweisungen inkl. Anwendungen von Meister zu Schüler weitergegeben, also nur einen kleinem ausgewählten Personenkreis vermittelt! Somit war eine Bewahrung der inneren Botschaft der Kata weitestgehend sichergestellt! Das Studium der Kata, das Bunkai (also der Prozess) dient zum identifizieren der Prinzipien der jeweiligen Kata. Dieser Prozess ist aber relativ modern. Damals war das nicht notwendig, da dies vom Lehrer zum Schüler vermittelt wurde. Dies geschah über so genannte „Kuden“ - mündliche Unterweisungen. Mit der Einführung des Karate ins jap. Schulsystem und dem Training als Massenveranstaltung war die Unterweisung in den „Kuden“ so nicht mehr für die Masse möglich. Daher mussten diejenigen Schüler, welche nicht in den Genuss der mündlichen Unterweisungen kamen, sich ihren Teil denken und den Erkennungsprozess als eine Art Rückwärtsaufarbeitung / Rücktransfer starten.


Mit der Verbreitung des Karate von den Ryūkyū Inseln (Königreich Ryūkyū (Hauptinsel Okinawa), später japanische Präfektur) aus nach Japan und später der ganzen Welt wurde der Unterricht einem breiten Publikum zugänglich! Mit der Einführung darauf zugeschnittener Trainingsmethoden (Kihon, Kumite) geriet die Kunst des Kata-Gumite (heute Kata Bunkai) mehr und mehr in Vergessenheit bzw. wurde zunehmend stilisiert und dem realen Kontext entfernt! Heute finden sich leider fast ausschließlich offensichtliche Varianten des Bunkai, welche stilisiert trainiert werden und weitgehend oberflächliche Aspekte vermitteln! Ich persönlich bezeichne dies gern als hingestelltes Bunkai – Kihon „Bunkai“.


Kata Bunkai beschreibt also das Studium der Kata und somit den Prozess zur Erkennung der Sinnhaftigkeit der Prinzipien der Kata [des Karate Dō]! Karate Dō (alt: Tode) war im historischen Kontext stets eine Selbstverteidigungskunst ziviler Natur, d.h. ein Lehre von Prinzipien sich gegen Banditen und andere bewaffnete „Schurken“ zu wehren! Historisch gesehen steht also zweifelsfrei der Schutz der eigenen körperlichen Unversehrtheit im Vordergrund!


Die jeweiligen Kata [und damit Karate] beinhalten Strategien und Prinzipien, um sich gegen Übergriffe und allgemeine Gewalt [ziviler Natur] wehren zu können und nicht in erster Linie um Angriffe mit Karatetechniken zu überstehen!“


Die jeweiligen Kata bestehen aus Abfolgen von Techniksequenzen, meist komplexen Bewegungen, die dem Schüler sehr oft am Anfang nicht komplett erschließbar sind! Bunkai Training zielt mit seiner Komplexität auf dieses Verständnis und fördert gleichzeitig das motorische Lernen! Um Einzeltechniken einer Kata oder die Abfolge aufeinander folgender Techniken zu verstehen, bedarf es einer intensiven tiefgründigeren Betrachtung.


Das Erlernen der Abfolge und das stetige Wiederholen der Kata steht somit an erster Stelle zur Erkenntnis des Bunkai!“


Zum weiteren Verständnis werden einzelne Bewegungsabläufe aus dem Kontext der Kata gelöst und in Einzelsequenzen mit dem Partner trainiert. Dabei versuchen sich die Schüler von Beginn an unterschiedlichen Distanzen und dem direkten Kontakt. Diese Übungen sollen dem Karateka das Verständnis für die Bewegungen und Techniken aus der Kata vermitteln. Jede Angriffstechnik erfordert dabei passende Abwehr- und Kontertechniken, welche sich nach den jeweilig geltenden Prinzipien situationsangemessen zusammenstellen lassen. Man versucht eine, zum Kata Element stimmige, "Gegen-Technik" zu finden und übt diese dann gemeinsam mit dem Partner.

Bunkai beschreibt jedoch kein starres Konstrukt von fest vorgegebenen Abläufen. Vielmehr dient es dazu, mehrere Möglichkeiten von Angriffen und Bedrohungen zu simulieren und zu üben! Freie Interpretation ist dabei in den höheren Stufen ebenso notwendig wie gewünscht! Bunkai schult, wie einmotorisches Lehrbuch“, Bewegungen zur Selbstverteidigung und vermittelt darüber hinaus das jeweilige  individuelle Wesen [sprich verschiedene Prinzipien] einer Kata!

Jede Kata enthält diverse „Botschaften“ (sprich Prinzipien und Strategien zur SV), die erst durch intensives Training zum Vorschein kommt!

Oftmals fällt es dem übenden Karateka schwer diese „Botschaft“ nur durch die bloße Technikabfolge zu verstehen! Tiefgründiges Kata Studium (also Bunkai Jutsu) verbessert somit ausschlaggebend das Wissen über Karate Dō!


Kata Bunkai ist keine abstrakte Kunst, sondern eine praktische Anleitung zur Selbstverteidigung!


Diese sollte relativ unstilisiert und frei mit dem Partner trainiert werden. Hierzu gibt es einige Begriffe zu klären, um den Inhalt etwas klarer und verständlicher zu machen!


Hirzu findet man in der Literatur oft folgende Begriffe, um das Kata Studium zu beschreiben und zu systematisieren! Man kann sie heute auch als die vier Elemente der Kata bezeichnen.


Bunkai (分解) – Analyse, Demontage

Ōyō (応用) – Anwendung, praktischer Nutzen

Henka (変化) – Vielfalt, Variation, Änderung

Kakushi (隠し) – versteckt, verborgen


Natürlich sind solche Untergliederungen nur beschreibender Natur, um die Sache dem übenden Karateka zu verdeutlichen. Oft wird Kata Bunkai auch als die persönliche Interpretation des Meisters verstanden.


Erläuterungen:


Ōyō ist die Interpretation der Schüler. Hier kann der übende Karateka freier agieren und es werden individuelle Merkmale des Körpers (Größe, Gewicht, Beweglichkeit etc.) berücksichtigt. Hierbei fließen ergänzende Bewegungen ein, die so in der Kata nicht offensichtlich zu finden sind, aber in den Zwischen- und Ausholbewegungen trainiert werden.


Henka beschreibt die Anwendung, welche zum Teil komplett von dem abweichen kann, was in der Kata zu sehen ist. Es fließen individuelle Erfahrungen, Meinungen und Sichtweisen des Übenden ein. Im Unterschied zu Ōyō befindet sich das Wissen über Kata Bunkai hier schon auf einem fortgeschrittenen Niveau, mit erfahrenem Umgang der Bewegungen in der Selbstverteidigung!


Kakushi (jap. [kakusch] versteckt) beschreibt nun etwas mystisch, das „geheime Wissen“ der großen Meister. Hierzu findet man auch Anwendungen auf Vitalpunkte und den Umgang mit dem Chi (Ki), der Lebensenergie. Pragmatischer und etwas realitätsnaher kann man darunter auch nur die Verwendung von Würfen, Würgetechniken und/oder Hebeln, also von nicht offensichtlichen Anwendungsmöglichkeiten, verstehen. (dazu tendiere ich persönlich)


Weiterhin finden wir erklärend die Begriffe Omote und Okuden.


Omote (jap., Oberfläche, Außenseite) bezeichnet in der japanischen Kultur die nach außen ersichtliche, offene und gesellschaftskonforme Seite. Diese wird jedoch zu oft idealisiert und ist demzufolge nur der erste Schritt im Kata Bunkai (siehe Ōyō) . Es beschreibt die Umsetzung der offensichtlichen Techniken der Kata in eine reale Partnerübung! Diese Stufe ist bei intensivem Kata Studium relativ leicht zu erreichen und sollte nicht zwangsweise mit dem realen Kata Kumite gleichgesetzt werden! Omote beschreibt also eher eine Form der Trainingsstufe von Ōyō!


Okuden (jap. uchigawa bubun - Innenteil bzw. innere Einweihung in die Tradition) beschreibt hingegen Bewegungsabläufe einer Kata, die auch bei intensivem Studium durchaus nicht immer offensichtlich sind und erst durch komplexe Kenntnisse der Kampfkunst zum Vorschein treten! Dabei dienen vor allem Kenntnisse der Biomechanik und menschlichen Physiologie & Anatomie für das tiefere Verständnis!


Okuden wird traditionell erst nach Verstehen von Omote und nur ausgewählten höher graduierten Schülern vermittelt. Dabei sind Akzentpunkte in der heutigen Ausführung der Kata nicht immer mit den Bewegungsabfolgen im Bunkai identisch.


Dies ist nun die höchste Form der Anwendung. Nachdem die Kata analysiert wurde und die wichtigsten, durch die in der Kata präsentierten Techniken aufgezeigten Prinzipien identifiziert worden sind, kann jetzt relativ frei auf einen Angriff reagiert werden. Man steckt jetzt nicht mehr in der Kata fest, sondern kann jede Technik benutzen, die auf den vorher identifizierten Prinzipien basiert. Konkrete Techniken und festgeschriebene Abfolgen sind logischerweise in Bezug auf ihre Anwendbarkeit stark limitiert und können nicht in jeder Situation eingesetzt werden.


Die Prinzipien einer Kata hingegen sind nicht limitiert und sind deshalb unbegrenzt anwendbar.


Hierbei werden Zwischenbewegungen, Ausholbewegungen und Wendungen zu wichtigen Bunkai Elementen, welche beispielsweise in Form von Würfen, Fußfegetechniken, Halte- und Würgegriffe, Hebeltechniken [...] ans Licht kommen. Die Phasen zwischen zwei Einzeltechniken in einer Kata, die teilweise und nur auf den ersten Blick unpassend erscheinen, werden somit bedeutungsvoll und interessant zum Verständnis des Gesamtkonzeptes!

Bunkai beschreibt also das Studium der Kata selbst, einen Prozess des Verstehens und dient der Erkenntnisgewinnung zur Selbstverteidigung! Hierbei geht es darum, die enthaltenen Techniken zu analysieren und darin repräsentierten Prinzipien zu identifizieren. Das Ergebnis dieses Studiums sind dann entsprechende Anwendungsmöglichkeiten (Ōyō) bzw. eine gewisse Anzahl von Prinzipien und Strategien mit denen man potentiellen Gewaltakten begegnen kann.


Da Kata von Kämpfern für Kämpfer geschaffen wurden, werden die Grundregeln des Zweikampfes vorausgesetzt.“


Durch die Kata lernt man im realen Ernstfall der Selbstverteidigung eine vorteilhafte Position zu erlangen. Darüber hinaus zeigt die Kata in einigen Fällen auf, wie man diesen erlangten Vorteil aufrecht erhält oder wie man den erlangten Vorteil weiterhin ausnutzen kann. Diesen Vorteil zu nutzen, gehört zum vorausgesetzten Grundwissen.


Deshalb ist es wichtig beim Trainieren der Anwendungen nicht automatisch aufzuhören, dort wo die Kata aufhört, sondern erst dann, wenn der Gegner unschädlich gemacht ist.“


Funakoshi Gichin Sensei führte seine Techniken und Bewegungen in den Kata zum Teil sehr verschieden aus. Auch seine Stände und Handbewegungen waren teilweise konträr zu den heute ausgeführten Bewegungen. Beispiele für Interessierte liefern hier seine Standartwerke „Karate Dō Nyūmon“ und „Karate Dō – Kyōhan“.

Distanzen werden anders bewertet! Der Nahkampf und der damit verbundene direkte Kontakt zum Partner ist hierbei sehr viel wichtiger, als das heute oft trainierte Prinzip der kurzen Annäherung und schnellen Flucht, wie es im Wettkampf Kumite oft betrieben wird.

Das „Ippon Prinzip“ funktioniert meist nicht so, wie wir es aus dem Wettkampf kennen. Warum? Ganz einfach!


Ein real angreifender „Übeltäter“ kennt keine stilisierte Form und handelt nur nach den Regeln von Gewalt und Instinkt!“


Vielmehr greifen reale Übeltäter oftmals mehrfach und unkontrolliert (nicht stilisiert) an. Hierbei wird es wichtig den Angreifer zuerst abzuwehren (Blockbewegungen, Ausweichbewegungen), danach eine Kontertechnik zu setzen (Atemi Technik) und anschließend den Angreifer zu kontrollieren (Festsetzen mit Hebeln, Festhalten etc.)


Demzufolge sollten wir also die Prinzipien verstehen, die uns jede einzelne Kata zur Selbstverteidigung vermittelt und nicht nur leere“ Techniken trainieren!“


Ein schrittweises Heranführen des Karateka an das "Bunkai Jutsu" ist somit unerlässlich für das Verständnis des Karate Dō und sollte als zentraler Bestandteil des Trainings gelten!

Auch die alten Meister in der Zeit vor den Reformen im Karate Dō äußerten sich zu diesem Thema.


Hier einige Auszüge.

Itosu Ankō (1830 – 1914) schrieb, in seinen 10 Grundsätzen zum Tōde, dass jede Bewegung mehrere Anwendungsmöglichkeiten haben kann. Es kann aber genauso gut auch eine Variation zu der unter Omote kategorisierten Anwendung sein. Hier unterscheidet sich die Anwendung nur hinsichtlich der verwendeten Waffe (Faust, Handballen, Griff), des anvisierten Ziels (Jōdan, Chūdan) und der Art und Weise, wie die Technik angewendet wird (Schlag, Hebel, Wurf). Habe ich vorher mit der Faust den Kopf attackiert, so ist es vielleicht auch möglich auf die Rippen zu zielen. Statt mit der Faust zu schlagen, kann ebenso gut auch mit der Handfläche, der Ellebogen in Form eines Hebels angegriffen werden. Hierbei können nun weitere, für den Kampf wichtige, Prinzipien identifiziert werden.


Chōki Motobu (1870 – 1944) sagte einmal folgende Worte

Die Techniken der Kata sind begrenzt. Dies muss jedem klar sein. [...] Trotz der Tatsache, dass Straßenkämpfe niemals gleich sind, variieren die Prinzipien in den Kata niemals. Wie dem auch sei. Man muss lernen, wie diese Prinzipien angewendet werden und wie man sich den Winden der Veränderung anpasst.“


Auch Funakoshi Gichin (1868 - 1957) schreibt in seinen 18. Paragraphen des Shōtōnijūkun etwas, dass in die selbe Richtung geht, wie Motobus Äußerungen.


Übe die Kata in unveränderter Form, ein tatsächlicher Kampf ist eine vollkommen andere Angelegenheit.“


Die Prinzipien in der Kata ändern sich also nicht! Die darauf aufbauenden Techniken ändern sich hingegen je nach Situation beliebig.


Persönlich glaube ich, dass „Bunkai Jutsu“ mich auf dem Weg des Karate am meisten voran bringen kann, wenn man sich einmal von den bestimmenden Zwängen des Wettkampfsystemes gelöst hat (Regelwerk und Punktesysteme)! Im realen Ernstfall zählt kein optisch schöner Eindruck, man erhält keine Punktwertung.

Hier zählt einzig und allein die Effektivität! In dieser Essenz liegt alle Schönheit und Faszination, die uns Karate Dō bieten kann.


Autor: Thomas Stenzel

Vielen Dank an Holger Nietzold, der mir tatkräftig mit Informationen und Übersetzungen von alten Texten zur Seite stand.


Quellen:

[1] „Shotokan“ - überliferte Texte, historische Untersuchungen Band 1 & 2 - Henning Wittwer

[2] „Kyōhan“ - Was die alten Meister wußten - Holger Nietzold

[3] „Karate Dō Nyūmon“ - Funakoshi Gichin

[4] „Karate Dō Kyōhan“ - Funakoshi Gichin

[5] diverse Artikel und Beiträge aus Fachzeitschriften