Entwicklung des Karate

Autor: Stenzel, Thomas

1. Übersicht über die Entwicklung des Karate


Karate in seiner heutigen Form entwickelte sich auf der pazifischen Kette der Ryūkyū-Inseln, insbesondere auf der Hauptinsel

Okinawa. Diese liegt ca. 500 Kilometer südlich der japanischen Hauptinsel Kyūshū zwischen Südchinesischem Meer und Pazifik.

Heute ist die Insel Okinawa ein Teil der gleichnamigen Präfektur Japans. Bereits im 14. Jahrhundert unterhielt Okinawa, damals

Zentrum des unabhängigen Inselkönigreichs Ryūkyū, rege Handelskontakte zu Japan, China, Korea und Südostasien. Die urbanen

Zentren der Insel, Naha, Shuri und Tomari waren damals ein wichtiger Umschlagplatz für Waren und boten damit ein Forum für den

kulturellen Austausch mit dem chinesischen Festland.


Die unterschiedliche wirtschaftliche Bedeutung der Inseln führte jedoch dazu, dass sie ständig von Unruhen und Aufständen

heimgesucht wurde. Im Jahre 1416 (laut George Kerr 1429) gelang es schließlich König Sho Hashi (Begründer der ersten Sho

Dynastie) die Inseln zu einigen. Zur Erhaltung des Friedens in der angeblich aufständischen Bevölkerung wird oft über ein ominöses

Waffenverbot berichtet! Tatsächlich gibt es keine historischen Anhaltspunkte über ein solches Verbot des Tragens von Waffen.

Dennoch erfreute sich die waffenlose Kampfkunst des Okinawa-Te wachsender Beliebtheit und viele ihrer Meister reisten nach China,

um sich dort durch das Training des chinesischen Chuan-Fa/ Quan Fa fortzubilden. Gleichzeitig verschmolzen die einheimischen

Kampftraditionen mit Prinzipien und Methoden aus den umliegenden Metropolen Südostasiens und bildeten so ein einzigartiges

System, welches viele Methoden der Selbstverteidigung und des Zweikampfes lehrte.


1609 besetzten die "Shimazu" aus Satsuma (heute süd-westlicher Teil der Hauptinsel Kyūshū Japans, Präfektur Kagoshima) die

Inselkette. Angeblich verschärften diese das „Waffenverbot“, was historisch jedoch ebenso wenig belegt ist! Jedoch beeinflusste die

Schwertkampfkunst der Shimazu Samurai, das Jigen Ryū Kenjutsu die Art und Weise der auf Okinawa betriebenen Kampfkunst

nachhaltig. Viele Meister des "Todi" / "Ti" (heute Kara Te) lernten parallel zu ihren einheimischen Kampfkünsten mit und ohne Waffen

(Kobudō) die Schwertkunst der Shimazu. Sōkon Matsumura (Bushi Matsumura) beispielsweise war ein Meister des Kara Te und des

Jigen Ryū Kenjutsu.


"Ti" oder "Todi" (Okinawa Te) wurde hingegen vieler mystischer Karatebetrachtungen historisch nie als Geheimnis / geheime Kunst

betrachtet. Es wurde zwar im Verborgenen, d.h. unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainiert, war jedoch nie offiziell verboten. Nie wurde

man der Ausübung wegen verfolgt! Vielmehr gehörte es zur königlich, hierarschischen Gesellschaftsstruktur des Ryūkyū Königreichs.

Viele historische Meister des Karate waren anerkannte Mitglieder der gehobenen Klassen im Feudalsystem Okinawas.


Der Mythos, dass Bauern und Fischer Karate praktizierten, ist schlichthin unglaubwürdig. Diese mussten bezüglich ihres niederen

Standes ("Heimin") den ganzen Tag schuften und schwer arbeiten. Zeit für ein aufwändiges Kampfkunsttraining blieb nur den

gehobenen Klassen (z.B. Peichin u.a.). Damit wurden die Kenntnise des Ti für lange Zeit auf kleine elitäre Schulen oder einzelne

Familien beschränkt, da die Möglichkeit zum Studium der Kampfkünste, z.B. auch auf dem chinesischen Festland, nur wenigen

begüterten Adeligen zur Verfügung stand.


Die Kunst des Schreibens (Bun Bu Ryō Dō „Schwert und Pinsel, zwei Wege“) war den Beamten des Königshauses natürlich

gegeben, jedoch wurden schriftliche Aufzeichnungen nur in begrenztem Maße angefertigt, so wie das auch in chinesischen Kungfu-

Stilen manchmal der Fall war. Es bestand schlichthin nicht die Notwendigkeit der schriftlichen Aufzeichnung, da eine direkte lehre von

Lehrer zu Schüler erfolgte. Viele alte Meister des Todi bezogen sich in ihrer Lehre aber auf altchinesische Militärklassiker wie zum

Bsp. das „Bubishi“.


Man verließ sich auf die mündliche Überlieferung und die direkte Weitergabe. Zu diesem Zweck bündelten die Meister die zu

lehrenden Kampftechniken in didaktischen zusammenhängenden Einheiten zu festgelegten Abläufen oder Formen. Diese genau

vorgegebenen Abläufe werden als Kata bezeichnet. Um dem Geheimhaltungszweck der Okinawa-Te Rechnung zu tragen, mussten

diese Abläufe vor Nicht-Eingeweihten der Kampfschule (also vor potenziellen Ausspähern) chiffriert werden. So besitzt jede Kata noch

bis heute ein strenges Schrittdiagramm (Embusen). Die Effizienz der Chiffrierung der Techniken in Form einer Kata zeigt sich bei der

Kata-Demonstration vor Laien. Für den Laien und in den ungeübten Augen des Karate-Anfängers muten die Bewegungen befremdlich

oder nichtssagend an. Die eigentliche Bedeutung der Kampfhandlungen erschließt sich einem erst durch intensives Kata-Studium

und der „Dechiffrierung“ der Kata. Dies erfolgt im Bunkai-Training (Kata Gumite). Eine Kata ist also ein traditionelles, systematisches

Kampfhandlungsprogramm und das hauptsächliche Medium der Tradition des Karate.


Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Karate meist in kleinen Gruppen geübt und ausschließlich von Meister zu Schüler

weitergegeben. Während der Meiji-Restauration wurde im Jahre 1879 schließlich das Han aufgelöst und die Präfektur Okinawa

eingerichtet. In dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, in der sich die okinawanische Bevölkerung den japanischen

Lebensgewohnheiten anpasste und Japan sich nach jahrhundertelanger Isolierung wieder der Welt öffnete, begann Karate stärker in

die Öffentlichkeit zu drängen. Auch wurde die Kampfkunst aus dem gesellschaftlich-königlichen Kontext der Adelsfamilien des

vorherigen Ryūkyū Königreichs gelöst und auf den Hauptinseln Japans verbreitet. Dafür wurde Todi / Ti zum Teil japanisiert, um es

besser an die Gewohnheiten und gesellschaftlichen Normen der japanischen Hauptinseln anzupassen. Einer dieser bekannten

"Reformer" ist beispielsweise Funakoshi Gichin, der als einer der ersten Karatepioniere diese Kunst nach Japan exportierte! Seither

nannte er es "Kara Te", die Kunst der leeren Hand, um den chinesischen Einfluss zu verschleiern und es somit für Japaner (bzgl.

ihres Nationalstolzes) interessant zu machen (siehe unten).


Der Kommissar für Erziehung in der Präfektur Okinawa, Ogawa Shintaro, wurde 1890 während der Musterung junger Männer für den

Wehrdienst auf die besonders gute körperliche Verfassung einer Gruppe junger Männer aufmerksam. Diese gaben an, auf der Jinjo

Koto Grundschule im Karate unterrichtet zu werden. Daraufhin beauftragte die Lokalregierung den Meister Itosu Ankō (manchmal auch

Itosu Yasutsune – Kun Leseweise) damit, einen Lehrplan zu erstellen, der unter anderem einfache und grundlegende Kata (Heian)

enthielt, aus denen er Taktik und Methodik des Kämpfens weitgehend entfernte (zu diesem Punkt bestehen diverse Unklarheiten und

verschiedene Ansichten) und den gesundheitlichen Aspekt wie Haltung, Beweglichkeit, Gelenkigkeit, Atmung, Spannung und

Entspannung in den Vordergrund stellte. Karate wurde dann 1902 offiziell Schulsport auf Okinawa. Dieses einschneidende Ereignis in

der Entwicklung des Karate markiert den Punkt, an dem das Erlernen und Üben der Kampftechnik nicht mehr länger nur der

Selbstverteidigung diente, sondern auch als eine Art Leibesertüchtigung angesehen wurde.


Nach Beginn des Jahres 1900 erfolgte von Okinawa aus eine Auswanderungswelle nach Hawaii. Dadurch kam Karate erstmals in die

USA, die Hawaii 1898 annektiert hatten.


Funakoshi Gichin, ein Schüler der Meister Itosu Ankō und Asato Ankō, tat sich bei der Reform des Karate besonders hervor. Auf der

Grundlage des Shorin-Ryū und des Shorei-Ryū begann er, nach Vorbild von Meister Asato und Itosu, Karate zu systematisieren. Er

verstand es neben der reinen körperlichen Ertüchtigung auch als Mittel zur Charakterbildung.

Neben den genannten drei Meistern war Higaonna Kanryo ein weiterer einflussreicher Reformer. Sein Stil integrierte weiche,

ausweichende Defensivtechniken und harte, direkte Kontertechniken. Seine Schüler Miyagi Chōjun und Mabuni Kenwa entwickelten

auf dieser Basis die eigenen Stilrichtungen Gōjū-Ryū bzw. Shitō-Ryū, die später große Verbreitung finden sollten.


In den Jahren von 1906 bis 1915 bereiste Funakoshi mit einer Auswahl seiner besten Schüler ganz Okinawa und hielt öffentliche

Karate-Vorführungen ab. In den darauffolgenden Jahren wurde der damalige Kronprinz und spätere Kaiser Hirohito Zeuge einer

solchen Aufführung und lud Funakoshi, der bereits Präsident des Ryūkyū-Ryū Budōkan - einer okinawanischen

Kampfkunstvereinigung - war, ein, bei einer nationalen Budō-Veranstaltung 1922 in Tokyo sein Karate in einem Vortrag zu

präsentieren. Dieser Vortrag erfuhr großes Interesse und Funakoshi wurde eingeladen, seine Kunst im Kōdōkan praktisch

vorzuführen. Die begeisterten Zuschauer, allen voran der Begründer des Jūdō, Kanō Jigorō, überredeten Funakoshi am Kodokan zu

bleiben und zu lehren. Zwei Jahre später, 1924, gründete Funakoshi sein erstes Dōjō.

Nach dem Vorbild des bereits im Jūdō etablierten Systems wurde im Laufe der zwanziger Jahre dann der Karate-Gi sowie die

hierarchische Einteilung in Schüler- und Meistergrade, erkennbar an Gürtelfarben, im Karate eingeführt, mit der auch politisch

motivierten Absicht eine stärkere Gruppenidentität und hierarchische Struktur zu etablieren (übrigens nach dem Vorbild des

preußischen Militärs bereits unter Itosu eingeführt).


Aufgrund seiner Bemühungen wurde daraufhin Karate an der Takushoku-Universität, der Waseda-Universität und an der Japanischen

Medizinischen Hochschule eingeführt. Das erste offizielle Buch über Karate wurde von Gichin Funakoshi unter dem Namen "Ryū Kyū

Kempo Karate" im Jahre 1922 veröffentlicht. Weitere wichtige Bücher von Gichin Funakoshi sind "Karate Dō Nyūmon" (1925)

sowie "Karate Dō Kyōhan" (1935).


Seine Biographie erschien unter dem Namen Karate-dō Ichi-ro (Karate-dō – ein Weg), in dem er sein Leben mit Karate schildert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Karate durch Funakoshis Beziehungen zum Ausbildungsministerium als Leibeserziehung und

nicht als kriegerische Kunst eingestuft, was es ermöglichte, Karate auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zeit der Besatzung in Japan

zu lehren.

Über Hawaii sowie die amerikanische Besatzung Japans und insbesondere Okinawa fand Karate im Laufe der 1950er und 1960er

Jahre als Sportart zunächst in den USA und dann auch in Europa eine immer stärkere Verbreitung.


Aus der nach Funakoshi bzw. dessen schriftstellerischen Pseudonym Shōtō benannten Schule Shōtōkan („Haus des Shōtō“) gingen

verschiedene einzelne Gruppierungen hervor. Eine davon war die erste international agierende Karate-Organisation (JKA), die noch

heute einer der einflussreichsten Karateverbände der Welt ist. Der originale Shōtōkan wurde im zweiten Weltkrieg völlig zerstört und

später von einer kleineren Gruppe unter Egami Shigeru neu errichtet. Funakoshi und die übrigen alten Meister lehnten die

Institutionalisierung und Versportlichung sowie die damit einhergehende Aufspaltung in verschiedene Stilrichtungen jedoch gänzlich

ab, so dass es zuletzt zum Bruch zwischen den alten Meistern und einigen Organisationen kam.



2. Karate in Deutschland 

Ein Deutscher Jūdōka namens Jürgen Seydel kam auf einem Jūdō-Lehrgang in Frankreich erstmals in Kontakt mit Karate beim

Meister Murakami, den er begeistert einlud auch in Deutschland zu lehren. Aus den Teilnehmern dieser Lehrgänge entwickelte sich

zunächst innerhalb der Jūdō-Verbände eine Unterorganisation, die Karate lehrte und aus der schließlich im Jahre 1961 der erste

deutsche Dachverband der Karateka, der Deutsche Karate Bund hervorging.


Am 1. April 1957 gründete der Jūdōka Jürgen Seydel in Bad Homburg das erste Karate-Dōjō Deutschlands (Budōkan Bad Homburg). 

Der Sport verbreitete sich sehr schnell und schon 1961 gründete sich der „Deutsche Karate-Bund“ (DKB) als erster Karateverband

Deutschlands. Dieser wurde ab 1967 vom JKA-Instruktor Kanazawa Hirokazu geleitet und 1970 von Shihan Ochi Hideo (heute 8. Dan

JKA) übernommen. 1993 gründete Ochi den „Deutschen JKA-Karate Bund“ (DJKB) als deutschen Ableger der Japan Karate

Association.



Autor: Stenzel, Thomas

Korrekturhinweise: Nietzold, Holger

Literatur: Wittwer, Henning: Shōtōkan. Überlieferte Texte - historische Untersuchungen. Band 1 & 2.